Wie so viele Kommunen in Deutschland, schritt auch die Marktgemeinde Murnau am Staffelsee in Oberbayern im August 1923 zur Notgeldausgabe. Am 17. August sprach sich der Gemeinderat einstimmig für eine Emission von lokalem Notgeld aus und am 22. wurde das Ausgabevolumen auf insgesamt 12,5 bis 15 Milliarden Mark festgelegt. Bereits zwei Tage später erteilte das bayerische Innenministerium telefonische die Genehmigung zur Notgeldausgabe. Es ist nicht bekannt, wann die Nominale des auszugebenden Notgelds festgelegt wurden; auch fehlen Angaben darüber, wann an die ortsansässigen Künstler die Entwurfsaufträge ergingen. Während der Historienmaler Hans Stubenrauch (1875–1941) den Millionenwert entwarf, stammen die Entwürfe für die Scheine zu 100.000 und 500.000 Mark vom Architekten Gustav Reutter (1894–1971). Mit dem Druck des Notgelds wurde die heimische Buch- und Kunstdruckerei Josef Fürst beauftrag. Am 28. August 1923 lieferte die Graphische Kunstanstalt A. Gässler & Co., München, zum Preis von 240 Goldmark die notwendigen Klischees und Farben.
Die ersten der 10.000 Gutscheine zu 1.000.000 Mark lieferte die Druckerei an das Bankgeschäft Kapfer und die Vereinsbank am 30. August 1923. Beide Banken hatten sich verpflichtet, Scheine im Wert von 8 Milliarden Mark bzw. 5 Milliarden Mark abzunehmen und der Gemeindekasse gutzuschreiben und zu verzinsen.
Die Auslieferung der 100.000-Mark-Scheine begann am 8. September 1923 und beim 500.000-Mark-Schein erfolgte dies sogar erst am 18. September 1923. Insgesamt waren beim 100.000er 25.500 und beim 500.000er 10.200 Scheine vorgesehen. Legt man diese Zahlen zugrunde, betrüge der Wert der Gesamtauflage 17,65 Milliarden Mark.
Die von Gustav Reutter entworfenen Scheine verdienen es, genauer betrachtet zu werden. Die Vorderseite beider Nominale ist bis auf die Wertangabe identisch, wobei als Emissionsdatum „im August 1923“ angegeben wird. Der Unterdruck ist vom bayerischen Wappen inspiriert, zeigt jedoch die blau-weißen Rauten schräg von Links. Am unteren linken Rand findet sich die fünfstellige Kontrollnummer. Im unteren Teil der Scheine ist ferner neben den beiden gedruckten Unterschriften eine weiße runde Fläche für das Stadtsiegel – mit der Abbildung des Drachen und MURNAU – ausgespart.
Die eindrucksvollen Rückseitendarstellungen sind als Bildergeschichte gestaltet und greifen Elemente der Sage vom Murnauer Lindwurm auf:
In grauer Vorzeit lebte bei Murnau ein ungeheuerer Lindwurm (Drache). Den Bauern raubte er die Kälber von der Weide, die Jungfrauen aus den Häusern und verschlang diese mit Haut und Haaren mit einem einzigen Biss. Anschließend badete er im Staffelsee und löschte dort seinen Durst, bevor er zu seiner Höhle flog, um sich schlafen zu legen, bis er von neuem ein Schaf oder eine Jungfrau begehrte. Der Drache trieb es so toll, dass in Murnau Schafe, Kälber und Jungfrauen zur Seltenheit wurden. Darum versprach der Kaiser denjenigen zum Ritter zu schlagen, der den Lindwurm zur Strecke bringe, zudem sollte er die allerschönste der noch verbliebenen Jungfrauen zur Frau nehmen. Auch wollte der Kaiser dem Paar eine Burg bauen lassen und das Dorf Murnau zum Markt erheben. Der Drache hatte jedoch eine so dicke Haut, dass kein Schwert sie durchdringen konnte, auch schlug er mit seiner Pranke jeden Reiter vom Pferd.
Das Schlimmste aber war, dass er Feuer spie, das jeden Brustpanzer wie Butter in der Julisonne schmolz. Nun gab es im Ort einen armen Schusterjungen, der weder Aussicht hatte, je zu Geld oder Gut zu gelangen, noch zu einer schönen Frau, es sei denn, er könnte den Lindwurm töten. Dies war natürlich nur durch List zu erreichen. Er holte sich beim Abdecker ein frisches Kalbsfell, beim Brennofen ungelöschten Kalk und brachte dann alles mit einer Schubkarre an das Seeufer. Dort nähte er das Kalbsfell zusammen und füllte es mit dem Kalk. Sodann versteckte er sich hinter einem Busch und begann wie ein Schaf zu blöken. Hiervon wurde der Lindwurm wach und verspürte sofort Hunger. Das Erste, was er sah, war das präparierte Kalb, auf das er sich sofort stürzte und mit einem Happs verschlang. Da ihn nun der Durst quälte, soff er aus dem See. Dies hatte eine fatale Wirkung, der Kalk im Drachen erhitzte sich und begann zu quellen. Nur mit Mühe konnte er sich noch in die Luft erheben, bevor es ihn mit lautem Krachen in lauter Fetzen zerriss. Der Kaiser hielt sein Versprechen und Murnau erhielt das Recht einen Lindwurm im Wappen zu führen.
Die Sage, in der der Lindwurm die Menschheit bedroht – das Böse verkörpert –wird von Reutter ganz anders interpretiert. Auf dem Schein zu 100.000 Mark füttert ein Engel den Drachen aus einem Füllhorn mit Papiergeld, das dieser dann auf dem Schein zu 500.000 Mark über dem Marktplatz fliegend auf die versammelte Bürgerschaft ausspeit. Dabei wirken die Menschen keineswegs ängstlich. Dies belegt eindrucksvoll die Szene mit der Frau in der linken unteren Ecke. Sie breitet ihre Schürze aus, um das Geld aufzufangen. Für den Betrachter ist das Bild ungewohnt und befremdlich, da bei Reutter der Drache nicht das Untier ist, sondern der Hüter unermesslicher Schätze, die er auf die Bürgerschaft regnen lässt. Der Künstler schließt somit den Bogen. Durch den Tod des Lindwurms erhielt Murnau das Marktrecht verliehen, durch das die Bürger Wohlstand erlangten.
Beide Scheine warten mit einer weiteren Überraschung auf, und zwar mit einer Liebeserklärung, die sich im Rankenwert des 500.000 Mark-Scheins verbirgt. Man muss schon genauer hinsehen, um die kleinen, versteckten Buchstaben zu erkennen.
Von oben links beginnend nach unten und erneut rechts oben beginnend ergeben sie: „ICH HAB DICH LIEB“ und „GISELA LIPOWSKY“. Dieses originelle Liebeswerben verfehlte nicht seine Wirkung. Gesela Lipowski und Gustav Reutter heirateten 1924 in Murnau. Angemerkt sei noch, dass auch der 100.000 Mark-Schein den Namen der Angebeteten enthält. Beide Scheine sind darüber hinaus diskret signiert: „G. Reutter 23“ in der linken unteren Ecke der Abbildung (500.000 Mark-Schein) bzw. „G. REUTTER“ auf einem am Boden liegenden „Notgeldschein“ unterhalb des Drachenkopfes (100.000 Mark-Schein).
Literatur:
Peter Freude: Murnauer Notgeld – Dokumente einer schweren Zeit, in: Schriften des Historischen Vereins Murnau am Staffelsee, Jg. 17 (1996), H. 17.
Michael G. L. Herrmann, Notgeld, in: Michael G. L. Herrmann et. al.: Vom Regenbogenschlüsselchen zum Euro, Geldgeschichte des Landkreises Garmisch-Partenkirchen, München 2014.
Christine Künzel, „[D]ie dunkle Schlange des lügnerischen Papiergeldes“ in: Bild Medien Geld, Bildkulturen und Medienreflexionen des Monitären, hrsg. v. Judith Ellenburger, Felix T. Gregor, Paderborn 2019
Die Sage vom Murnauer Lindwurm nach „Der Drache“: http://www.marschin.de/menschen-helfen/kk2k2/drache.html,
Stand: 28.11.2019, 10.45 Uhr.
Uwe Bronnert
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