Die Adresse „Jägerstraße Nr. 354 in Ossining“ im Westchester County ist keine erstrebenswerte Wohngegend: Dort befindet sich das Hochsicherheitsgefängnis des Bundesstaates New York mit der Bezeichnung „Sing Sing Correctional Facility“.
Abb. 1: Eingangstor 354 Hunter Street, Ossining, NY 10562
Vorgeschichte: Als der 27-jährige Frederick Flypsen aus dem niederländischen Bolsward in der Provinz Zuidwest-Friesland 1653 nach Flatbush in die nordamerikanische Kolonie Nieuw Nederland auswanderte, konnte er nicht ahnen, dass ein Teil seines künftigen Landbesitzes einmal ein berüchtigter Platz in den USA werden würde. Als Kaufmann (Verkäufer von Eisenwaren und Wirtshausbesitzer) und späterer Sklavenhändler kaufte er in den Jahren von 1672 bis 1686 große Teile der von Mohikanern bewohnten Gebiete.
1685 verkauften die Sint Sincks ihr Land an Frederick Philipse (vormals Flypsen), der es in seinen Landbesitz eingliederte, das als Manor of Philipsburg bekannt wurde. Dort befand sich das Indianerdorf Sing Sing, das soviel wie „Stein auf Stein“ bedeutet und auf ausgedehnte Kalksteinschichten im südlichen Teil des Dorfes hinwies. Die Briten übernahmen 1674 die niederländische Kolonie und während des Unabhängigkeitskriegs 1779 wurden die Nachfahren von Frederick Philipse als Anhänger des britischen Königshauses enteignet, sein Enkel verhaftet und sein Land vom neuen Staat New York beschlagnahmt und versteigert. Viele der Farmen wurden an die Pächter verkauft, die sie bearbeitet hatten, insbesondere diejenigen, die die amerikanische Sache unterstützt hatten. Zu dieser Zeit wurde das Gebiet als Sing Sing bekannt. Die Ansiedlung wuchs zu einem Ort mit erfolgreichem Hafen und am 2. April 1813 wurde Sing Sing als eingemeindetes Dorf im Westchester County staatlich anerkannt.
Abb. 2: der Ort Sing Sing im Jahr 1884 (von Lucien R. Burleigh)
Handel und Industrie blühten im gesamten 19. Jahrhundert auf. Es entstanden eine Schuhfabrik und eine Ofengießerei – man benötigte viele Arbeitskräfte.
Deshalb begann man 1825 mit dem Bau eines Staats-Gefängnisses. Für den Bau wurde einheimisches Baumaterial verwendet. Ungefähr 150 Sträflinge und Wachen kamen vom Auburn Prison, bis dahin die einzige Gefängniseinrichtung im Staat New York. Sie bauten ihr eigenes Gefängnis und begannen „Sing-Sing-Marmor“ aus einem nahe gelegenen Kalksteinbruch abzubauen.
Als das Gefängnis berüchtigt wurde, versuchte sich das Dorf vom harten Ruf des Gefängnisses zu distanzieren und änderte seinen Namen am 25. März 1901 in Ossining.
Abb. 3: der Gefängniskomplex im Jahr 1909 (Postkarte von Valentines & Sons’ Publ. Co.)
Das Staatsgefängnis (im Volksmund „up the river“) gelangte 1953 ins Licht der Weltöffentlichkeit, als man die 1950 zum Tod verurteilten Sowjetspione Ethel und Julius Rosenberg auf dem berüchtigten elektrischen Stuhl hinrichtete. Sie gehörten zu den über 640 Hingerichteten innerhalb von 75 Jahren bis 1963. 1965 wurde im Staat New York die Todesstrafe abgeschafft.
Für Papiergeldsammler und geldgeschichtlich Interessierte sind aber die Geldscheine in und um Sing Sing/Ossining von weit größerem Interesse. Selten sind heute die Banknoten der Bank von Sing Sing; von der Serie zu 1, 2, 3, 10, 20, 50 und 100 Dollar sind nur die nicht ausgegeben sog. Remainder aus den 1850er Jahren und heutige Reprints bekannt. Die Bank wurde 1853 gegründet und stellte ihre Geschäftstätigkeit schon im November 1860 wieder ein.
Abb. 4: 20 Dollar 18xx, Vs., einseitig bei Danforth, Perkins & Co. New York gedruckt,
Porträt von Daniel Webster, 2-facher Außenminister der USA
In Ossining wurden wurden die großformatigen Nationalbanknoten während der Jahre 1902 bis 1905 ausgegeben: von der 1864 gegründeten First Nationalbank of Ossining (Charter Nr. 471; Serie 1865: 1, 2, 5, 10 und 20 Dollar; 1875: 5, 10 und 20 Dollar; 1882: 5, 10 und 20 Dollar; 1902: 5, 10 und 20 Dollar) und von der 1902 eröffneten Ossining National Bank (Charter Nr. 6552; Serie 1902: 5, 10 und 20 Dollar). Von den kleinformatigen Banknoten sind Ausgaben von 1929 von der inzwischen zur First National Bank and Trust Company Ossining bekannt (alte Charter Nr. 471; Serie 1929: 5, 10 und 20 Dollar).
Abb. 5: 10 Dollar 1. Februar 1903, Vs.
Abb. 6: 10 Dollar 1. Dezember 1902, Vs.
Abb. 7: 10 Dollar 1929, Vs.
Noch interessanter ist aber das Gefängnisgeld, das in Sing Sing an Insassen ausgegeben wurde. Auf Initiative des ehemaligen Bürgermeisters Thomas Mott Osborne von Auburn (1903–1905) wurde das Projekt eines Gefängnisgelds in die Tat umgesetzt. 1913 wurde T. M. Osborne zum Vorsitzenden der „New York State Commission on Prison Reform“ ernannt. Als „Tom Brown“ ließ er sich für eine Woche anonym in das Staatsgefängnis von Auburn einliefern, um von innen etwas über die dortigen Zustände zu erfahren. Er sei entsetzt gewesen hieß es.
Abb. 8: Thomas M. Osborne, amerikanischer Penologe (23.9.1859–20.10.1926),
Forscher im Teilbereich der Kriminologie, in der wissenschaftlichen Beurteilung
von Sanktionen und Strafen auch im Gefängniswesen;
Leiter des damaligen Sing Sing State Prison Ossining von 1913 bis 1916
Aus einem 1916 veröffentlichten Bericht in einer Sammlerzeitschrift wissen wir: Er entwickelte eine Philosophie der selbstverwalteten Rehabilitation für die Insassen. Er arbeitete aggressiv für diese Ideen und entwickelte ein System der Selbstverwaltung der Gefangenen, das er Mutual Welfare League nannte. Es wurde im Dezember 1913 in Auburn eingeführt.
Osborne brachte bei seinem Amtseintritt 1915 seine Philosophie mit. Die Mutual Welfare League (MWL = Liga für gegenseitige Wohlfahrt) gestattete den Insassen, eigene Interessenvertreter in das Leitungsgremium der Liga zu wählen. Die Liga durfte Unterhaltungen für sich selbst planen, einschließlich der Sportprogramme. Die Häftlinge trugen gestreifte Uniformen und bewegten sich unter strenger Aufsicht nur im Gleichschritt. Osborne ersetzte dies durch einen offeneren Bewegungsstil, der es den Insassen ermöglichte, bequemere Kleidung zu tragen.
Die Gefangenen wurden zur Herstellung von Waren in privaten Fabriken sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern eingesetzt und fertigten Stiefel, Schuhe, Hüte, Bürsten, Matratzen, Teppiche, Sättel, Melassefässer für Rumhändler und Öfen Die Häftlinge erhielten bis dahin keine Bezahlung, da ihre Arbeit als Teil ihrer Bestrafung galt.
Die MWL führte bald ein Lohnsystem ein und in dem eröffneten Laden konnten die Insassen eine große Auswahl an persönlichen Gegenständen kaufen.
Dieses Geld kam ab 1. Oktober 1915 in Umlauf; in Papierausgaben zu 1, 5 und 10 Einheiten (= Dollar) sowie in Münzen zu 1, 5, 10, 25 und 50 Klein-Einheiten (= Cents).
Abb. 9: 1 Einheit = Dollar o. D., Vs., ohne SBst. KN 3-stellig schwarz
Abb. 10: 1 Einheit = Dollar o. D., Vs., Serie E, KN 4-stellig schwarz
Abb. 11: 5 Einheiten = Dollar o. D., Vs., SBst. M KN 4-stellig rot
Abb. 12: 5 Einheiten = Dollar o. D., Vs., Serie E, KN 4-stellig rot
Abb. 13: 10 Einheiten = Dollar o. D., Vs., SBst. R KN 3-stellig schwarz
Abb. 14: 10 Einheiten = Dollar o. D., Vs., SBst. R KN 4-stellig rot
Die Scheine haben einen breiten farbigen Rand und die Aufschrift „Do Good / Make Good“ (= tu Gutes / mach Gutes). Mittig ist ein Kreis mit den Buchstaben MWL. Die Wörter Cents oder Dollars erscheinen weder auf den Scheinen noch auf den Münzen.
Die Scheine zeigen kein Datum, Fachleute datieren sie in die 1920er–1940er Jahre; sie waren einheitlich etwa 185 × 80 mm groß und wurden einseitig, aber in verschiedenen Serien und Farben gedruckt. Eine Druckerei ist nicht bekannt – ebenfalls keine Stückzahlen. Sie kommen auch in gebrauchter Erhaltung selten vor. In der Auktion bei Stack’s & Bowers vom 8. November 2022 erlangte der Einer in Erhaltung I bei einem Schätzwert von 400 bis 600 Dollar stolze 900 Dollar. Die Zehner kommen kaum vor, eine Abbildung stammt von einer zeitgenössischen Postkarte. Dort finden sich auch die KN 1 auf dem Einer und M 1 auf dem Fünfer. Die Bezeichnung „SERIES No E“ (mit einem Punkt unter dem „o“) finden sich auf den letzten Scheinen.
Abb. 15: 25 Klein-Einheiten = Cents, o. D.
Einen ähnlichen Text findet man auf den Münzen. Die Einer wurden in Messing geprägt die Zehner, Fünfundzwanziger und Fünfziger waren aus Nickel. Die Fünfer gab es in unterschiedlicher Größe sowohl in Messing als auch in Nickel. Für die drei höheren Wertstufen findet man auch die Angaben Aluminium oder „white metal“. Diese Token erzielen heute je nach Erhaltung Preise von 10 bis 50 US-Dollar bei Online-Auktionen im „Sofortkauf“, wobei die 50er sehr selten am Markt auftauchen.
Die Justizvollzugsanstalten mussten sich wirtschaftlich selbst versorgen und die laufenden Kosten finanziell erwirtschaften. So erhielten die Häftlinge zwar einen Dollar Lohn pro Tag für ihre Arbeit, aber sie mussten Miete und auch noch ihre Mahlzeiten bezahlen. Die Zellenmiete auf den verschiedenen Rängen hatten unterschiedliche Mietpreise zwischen 1,00 und 1,60 Dollar pro Woche; jeder Gefangene konnte eine Zelle auf der Ränge auswählen, deren Preis er zu zahlen bereit war.
Allerlei Dinge aus dem MWL-Laden konnte nicht mehr mit dem regulären, gesetzlichen US-Geld kaufen, sie mussten alle Beträge, die sie auch von außerhalb erhalten durften in das Gefängnisgeld 1:1 eintauschen.
Wie die abgebildeten Geldzeichen zeigen, haben sie nach ihrer Einführung bald ihren Weg außerhalb der Gefängnismauern gefunden. So wurde schon 1916 ein „Fünf-Cent“-Stück in der Spendenbox der Greensburg Presbyterian Church gefunden. Der damalige Küster Dobbs Ferry entdeckte die Münze, als er die Spenden abends zählte.
Quellen
„Sing Sing Prison’s Token Money“ in „The Numismatist“, Nr. 1/Januar, S.16, Federalsburg 1916.
Ritchie, Kenneth W.: „Is Sing Sing a Misuse of money“ New York Times, 20. November 1977, S. 20.
https://de.wikipedia.org
https://postcardhistory.net/2019/06/inside-sing-sing-prison-and-the-mutual-welfare-league/
https://www.britannica.com/science/criminology/Major
https://www.ohsm.org
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