In den 1950er Jahren wuchs die Wirtschaft der Bundesrepublik sehr schnell. In den Wirtschaftswunder-Jahren herrschte Vollbeschäftigung und den Unternehmen fehlten Arbeitskräfte, die man im Ausland anzuwerben suchte.[1] Anfang der 1970er Jahre zog es Tausende Gastarbeiter nach Deutschland. Unter ihnen Ejub Hodzaj aus Trnja (Gemeinde Ejakowveca) im heutigen Kosovo. Der 22jährige Jugoslawe brach am 11. März 1972 in Kamarak auf. Mit der Eisenbahn ging es über Belgrad zunächst nach München und weiter nach Rosenheim, wo er am 12. März ankam. Da er dort seinen Bekannten nicht antraf, setzte er seine Reise fort und erreichte am 13. März 1972, einem Montag, gegen 21 Uhr Hannover. Die folgenden zwei Nächte fand er Unterschlupf bei zwei Landsleuten. Am 15. März reiste er weiter nach Wolfsburg, wo er die Nacht bei einem Bekannten in einem Gasthof unterkam. Bereits am nächsten Tag kehrte er jedoch nach Hannover zurück und übernachtete in einem Wohnheim. Am nächsten Morgen, dem 17. März, machte er sich auf und sprach beim Arbeitsamt wegen Arbeit vor. Die nächsten Nächte konnte er bei einem ehemaligen Arbeitskollegen in einem anderen Wohnheim schlafen.
Durch Vermittlung erhielt er bei einer Baufirma Arbeit und konnte am 20. März anfangen. Gleichzeitig fand er eine Unterkunft in eine Wohnung in der Kaplanstraße 2, in der bereits ein Deutscher, zwei Türken und ein Italiener lebten. Einem Vorarbeiter der Baufirma fiel am 22. März bei Hodzaj „ein Bläschen“ am Kinn auf. Der Mitarbeiter schickte Hodzaj zur Behandlung in die Praxis eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes. Der riet ihm wegen des Exanthems[2] einen Hautarzt aufzusuchen, was er am nächsten Tag auch tat. Dieser verschrieb ihm gegen den Ausschlag eine Salbe, die er sich in einer nahegelegenen Apotheke besorgte. Da sich der Ausschlag verschlimmerte, besuchte er am folgenden Tag nochmals den Hautarzt. Schließlich verschlechterte sich sein Allgemeinzustand so sehr, dass der gerufene Notarzt Hodzaj mit Verdacht auf „schwere Windpocken“ in die Hautklinik Hannover-Linden einwies.
Bei der Visite des Chefarztes am 27. März, der Patient hat eine Temperatur von 38 Grad, z. T. typische Hautveränderungen (Effioreszenzen) an Mundschleimhaut, Gesicht, Armen, Rücken und Beinen, kam dem Arzt der Verdacht, dass der Patient an Pocken (Variola vera) erkrankt sein könnte. Der Verdacht wurde gegen 20 Uhr vom Prof. Dr. Lies von der Tierärztlichen Hochschule Hannover bestätigt und auch das Hygiene-Institut der Universität Göttingen kam zum selben Ergebnis, sodass der Jugoslawe am 28. März in die Pockenbehandlungsstation Stolzenau verlegt wurde.
Die mit den Namen Pocken, Blattern oder Variola bezeichnete Krankheit ist eine hochgradig ansteckende und schwere Infektionskrankheit, die durch Pockenviren (Orthopox variolae) vor allem durch Tröpfcheninfektion übertragen wird: Dabei gelangen die Viren über feinste Sekrettröpfchen mit der Luft, z. B. beim Sprechen, Niesen oder Husten von einem Menschen zum nächsten. Bereits wenige Viren reichen aus, um die Erkrankung hervorzurufen. Seltener breiten sich die Pocken über eine Schmierinfektion, also über infizierte Gegenstände, wie
z. B. Bettwäsche, Kleidung oder Türklinken, aus. Die Inkubationszeit, also die Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Erkrankung beträgt 7 bis 19 Tage. Für die Pockenerkrankung typisch sind Hautveränderungen, die verschiedene Stadien durchlaufen: kleine roten Punkte auf Zunge und Rachen – im Gesicht, Armen und Beinen bilden sich typische Papeln, die sich mit virushaltiger Flüssigkeit füllen – die Papeln werden zu Pusteln, die nach etwa fünf Tagen verkrusten – wenn der Schorf abfällt, bleiben deshalb Narben zurück.
Drei Arten der Pockenerkrankung sind zu unterscheiden:
Die meist tödlich verlaufenden „schwarzen Blattern“;
die echten Pocken, bei den die Sterblichkeitsrate etwa 30 Prozent der Infizierten beträgt und
schließlich die weißen Pocken, deren Krankheitsverlauf meist harmlos ist.
Da es nicht möglich ist, das Pockenvirus im menschlichen Körper zu bekämpfen, ist die einzige wirksame Maßnahme die Vorbeugung gegen diese Erkrankung durch Impfung sowie die Isolierung möglicher infizierter Personen.
Da Hodzaj lediglich einen an der Grenze zu Albanien gebräuchlichen Dialekt sprach, gestaltete sich die Kommunikation mit ihm recht schwierig, sodass seine Krankengeschichte und die Feststellung der Kontaktpersonen nur schwer zu ermitteln war. Man konnte nur erahnen, wie groß der Kreis der Kontaktpersonen 1. Grades sein würde, die ebenfalls wegen der Gefährlichkeit der Krankheit unter Quarantäne gestellt werden mussten.
Als am Ostermontag fast alle ermittelten Kontaktpersonen 1. Grades als „abgesondert“ gemeldet wurden, hatte man insgesamt 665 Frauen, Männer und Kinder erfasst. Da in Stolzenau nur sechs Plätze zur Verfügung standen, mussten geeignete Einrichtungen gefunden werden, die die 665 Personen aufnehmen konnte. Eine davon war in Bredenbeck. Das Dorf liegt südlich von Hannover am nordöstlichen Rand des Deisters.
Abb. 2.1: Deutsche Bundesbank, 2. Januar 1970, 10 DM, mit Stempel, Vorderseite.
Abb. 2.2: Deutsche Bundesbank, 2. Januar 1970, 10 DM, Rückseite.
Von hier stammen Bundesbanknoten mit einem blauen 58 mm x 28 mm großen Kastenstempel:
Mit diesem Stempel wurden wohl die Geldscheine gekennzeichnet, die die isolierten Personen in die Quarantäne-Station mitbrachten und bei Verlassen hitzebehandelt wurden, um so jedes Ansteckungsrisiko auszuschließen. Es ist fraglich, ob diese Prozedur überhaupt notwendig war. Anlässlich der Corona-Pandemie wollten Experten der Europäischen Zentralbank in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Medizinische und Molekulare Virologie der Ruhr-Universität Bochum (RUB) in einer Studie klären, wie lange Sars-Coronaviren auf Banknoten und Münzen infektiös sind. Das Ergebnis: Unter realistischen Bedingungen ist das Risiko, sich per Bargeld mit Sars-Cov-2 anzustecken, sehr gering.[3] Dies dürfte sicherlich auch bei Pockenviren zutreffend zutreffen.
Die Pocken gehörten zu den größten Seuchen der Menschheit. Zwischen 1947 und 1972 kam es in Deutschland zu zwölf Pockenausbrüchen, bei denen insgesamt 95 Personen erkrankten, von denen 10 verstarben; 81 Erkrankte waren geimpft. Der letzte Ausbruch war der geschilderte Fall in Hannover. Dass es hier bei einer Erkrankung blieb und zu keiner Katastrophe kam, dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass in Deutschland eine Impfpflicht gegen Pocken bestand. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte ab 1967 eine weltweite Impflicht gegen Pocken vorgeschrieben.[4] Sieht man von einem Laborunfall 1978 ab, trat der letzte Pockenfall 1977 in Somalia auf, sodass am 26. Oktober 1979 die WHO die Welt für pockenfrei erklärte.
Uwe Bronnert
Literatur
Miriam Funk, Pocken: Ausrotten durch Impfung, https://www.onmeda.de/krankheiten/pocken-id200321/ (29.07.2024).
Julia Sasse u. H. R. Gelderblom, Pockenausbrüche nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland, in: Bundesgesundheitsblatt 2015, S. 730 – 737.
Pocken in Hannover, Alarmeinsatz: Vorgeschichte und Ablauf, in: Deutsches Ärzteball,
69. Jahrgang / Heft 16, 20. April 1972, S. 943 – 947.
Anmerkungen
[1] Die Bundesregierung schloss daher am 20. Dezember 1955 mit Italien das erste Anwerbeabkommen ab. Es folgten Abkommen mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und dem damaligen Jugoslawien (1968).
[2] „Ein Exanthem (von griechisch exantheo, ‚ich blühe auf‘; ἄνθος anthos, ‚Blume‘) ist ein akut auftretender Hautausschlag. Er tritt häufig bei infektiösen Allgemeinerkrankungen wie Masern, Röteln, Windpocken, Scharlach, Typhus, Hand-Fuß-Mund-Krankheit auf.“ (Wikipedia)
[3] Kein besonderes Infektionsrisiko für Sars-Cov-2 durch Bargeld, <https://news.rub.de/presseinformationen/wissenschaft/2021-07-29-virologie-kein-besonderes-infektionsrisiko-fuer-sars-cov-2-durch-bargeld> (03.08.2024)
[4] Am 18. April 1801 führte Johann Friedrich Küttlinger die erste erfolgreiche Pockenimpfung durch. Bereits am 26. August 1807 wurde in Bayern eine Impfpflicht eingeführt. In der Bundesrepublik endete 1976 die Impfpflicht und nur Wiederholungsimpfungen wurden bis 1983 durchgeführt.
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