Schweizer Agitationsnote, 1921, 100.000 Schweizer-Rubel
Die russische Revolution im Oktober 1917 brachte nicht nur Lenin und die Bolschewiki an die Macht, sondern veränderte auch die politische Landschaft Europas. Anfang November 1918 übernahmen für kurze Zeit in vielen Städten Deutschlands Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. In Berlin rief am 9. November Karl Liebknecht – nur zwei Stunden nach der Proklamation der Deutschen Republik durch Phillip Scheidemann – zum Kampf für die freie sozialistische Republik Deutschland und die Weltrevolution auf. Die politischen Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten, bürgerlichen Parteianhängern sowie dem kommunistischen "Spartakus-Bund" führten Deutschland an den Rand eines Bürgerkriegs. Kommunisten und Anarchisten regierten im Frühjahr in München die bayerische Räterepublik. Aber auch außerhalb Deutschlands war das kommunistische Gedankengut angekommen. Unter Führung von Sándor Garbai (1879–1947) und Béla Kun (1886–¡938) entstand im März 1919 in Ungarn eine kurzlebige Räterepublik. Besonders diese wurde von vielen bürgerlichen Zeitgenossen als Zeichen der bevorstehenden kommunistischen Weltrevolution gedeutet und ebenso wie sozialdemokratische Ideen und Forderungen abgelehnt und entschieden bekämpft.
Dies galt auch für die Schweiz.
Obwohl die Schweiz nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt gewesen war, hatte sie unter den finanziell Folgen zu leiden. So fiel nicht nur die Last der Verzinsung und Tilgung der Staatsschulden den steuerzahlenden Bürgern zu; auch die Aufrechterhaltung des Militär- und Verwaltungsapparats verschlang das Geld für die längst versprochene Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenen-Versicherung. Ebenso wenig standen Mittel für die Arbeitslosenversicherung und für eine wirksame Tuberkulosenfürsorge zur Verfügung. Der Sozialdemokrat Dr. Arthur Schmid kritisierte in seinem Aufsatz darüber hinaus die ungerechte Steuerbelastung mit den kämpferischen Worten: „Im kapitalistischen Staate werden alle Lasten auf die Schultern der großen Volksmassen abgeladen, soweit das immerwie möglich ist. Die Steuerlasten werden nicht nach einem gerechten Maßstabe verteilt, sondern die Verteilung der Steuerlasten ist eine politische Machtfrage. Wo die politische Macht in den Händen der kapitalistischen Parteien ruht, wird die Steuerpolitik im Interesse der wirtschaftlich Mächtigen eingestellt. Ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wird den Arbeitenden immer mehr und mehr aufgeladen.“[1]
Daher wollten die Schweizer Sozialdemokraten natürliche und juristische Personen mit größerem Vermögen durch eine einmalige Vermögensabgabe stärker an der Schuldtilgung des Staates beteiligen. Ihr Plan sah bei natürlichen Personen einen progressiven Steuersatz von 8 Prozent auf Vermögen von bis zu 50.000 Franken vor, der auf bis auf 60 Prozent für Vermögen von über 32,7 Millionen Franken anstieg. Die Steuer sollte erst von einem Vermögen erhoben werden, das über dem Freibetrag von 80.000 Schweizer Franken lag. Dieser erhöhte sich um 30.000 Franken für die Ehefrau und für jedes Kind um weitere 10.000 Franken; hinzu kam ein abgabefreier Betrag von 50.000 Franken für das Mobiliar, d. h. eine Familie mit zwei Kindern hätte steuerfrei über ein Vermögen von 180.000 Franken verfügen können. Dieser Betrag entspräche heute ca. 4,7 Millionen Franken bzw. etwa 3,9 Millionen Euro. Bei juristischen Personen sollte eine Vermögensabgabe von 10 % des abgabepflichtigen Vermögens erhoben werden.[2]
Um diese einmalige Steuer erheben zu können, war eine Verfassungsänderung notwendig, über die die Schweizer Bürger in einem Volksentscheid abzustimmen hatten.
Im September 1921 reichte die Sozialdemokratische Partei (SP) die Volksinitiative für die einmalige Vermögensabgabe ein. „Das Argument der Sozialdemokraten war ein doppeltes: Zum einen betonten sie, dass breite Bevölkerungsschichten durch den Konsumverzicht während der Kriegsjahre ihren Beitrag zur Kriegsfinanzierung bereits geleistet hätten, weshalb es nun an den Begüterten liege, sich für die Wiederherstellung normaler Staatsfinanzen zu engagieren. Zum anderen beabsichtigte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, mit diesem Vorstoss den sozialpolitischen Durchbruch zu erzielen, den sie anlässlich des Landesstreiks von 1918 verpasst hatte.“[3]
Was nun folgte, war eine wahre Propagandaschlacht der Vermögensabgabe-Gegner. Von Konfiskation und Raubmaßnahmen war die Rede. Auch verkündete man, dass die Initiative nichts Geringeres anstrebe als die Einführung der kommunistischen Regierungsform in der Schweiz. Von Kirchenkanzeln, auf Sportplätzen und in Schulen wurde agitiert. Zeitungen, Broschüren, Plakate, Flugblätter und eigens gedruckte „Schweizerrubel-Banknoten“ kamen zum Einsatz.
Diese Scheine waren den sowjetischen Noten zu 100.000 Rubel von 1921 (RUS-117) nachempfunden. Einzelne Teile der Vorderseite der Schweizer „Note“ wurden sogar von der Originalnote übernommen: Im Feld am oberen Rand „CTO TЫCЯЧ PУБЛEЙ“ (übersetzt: Hunderttausend Rubel); im Feld darunter zweizeilig „Zu einem solchen Fetzen wird der gute Schweizerfranken, / wenn die Vermögensabgabe kommt.“, dann groß zweizeilig „100.000 / SCHWEIZER-RUБEL“; es folgen vier Zeilen mit dem Text der Originalnote. Neben der Wertangabe wurde das sowjetische Staatswappen abgebildet: Hammer und Sichel umgeben von einem Ährengebinde.
Die Rückseite weicht ebenfalls nur geringfügig vom Original ab. In der Mitte in einem Schmuckrahmen zweizeilig „100000 / SCHWEIZER-RUБEL“, darüber drei Medaillons mit den Kopfbildern von „Genosse R. Grimm“, „Genosse F. Platten“ und „Genosse DR A. Schmid“. Auf dem rechten Schaurand fünfzeilig: „Schweizer pass‘ auf!/ Stimmest am Dritten Du ‚Ja‘, / Wird der Franken zum lumpigen Rubel. / Zünd‘ drum den ‚Räubern‘ nach Haus! / Schreibe ein wuchtiges NEIN!“.
Der Schein wurde auf sehr dünnem, weißem Papier ohne Wasserzeichen gedruckt.
Er hat die Maße 158 x 86 mm und entspricht damit fast dem russischen Original (161 x 84 mm). Letzteres weist jedoch ein dickeres Wasserzeichenpapier auf.
Vorlage für die Agitationsnote:
Sowjetunion, 1921, 100.000 Rubel
Wer sind die drei abgebildeten Personen, deren Lebensläufe sich in manchen Punkten gleichen und dennoch grundverschieden sind?
Medaillon mit der Abbildung von Robert Grimm
Der Arbeiterführer und Nationalrat Robert Grimm (16. April 1881; † 8. März 1958) war Weggefährte und zugleich Kritiker Lenins. Der Arbeitersohn und gelernte Buchdrucker vertrat die SP bei der Zweiten Internationale 1889 in Paris. „Wegweisend wurde [für Grimm] .. die Begegnung mit der um sechs Jahre älteren geschiedenen jüdischen Kommunistin Rosa Schlain, mit der er sich um die Zeit ihrer zweiten Scheidung auch politisch stritt. Die Russin Schlain hatte schon 1891 als eine der ersten Studentinnen in Bern Philosophie studiert, propagierte nach der Trennung von Grimm aber im kommunistischen ‚Vorwärts‘ die Linie von Lenin und Trotski, während sich Grimm in der Berner ‚Tagwacht‘ zunehmend von der leninistischen Linie entfernte. Lenin beschimpfte ihn deswegen als ‚Canaille‘.“[4]
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs schwenkten die meisten Mitglieder der Sozialistischen Parteien der am Krieg beteiligten Nationen auf eine Politik ein, die die Kriegsanstrengungen ihrer Staaten unterstützte, obwohl die Sozialistische Internationale zuvor Militarismus und Krieg mehrfach verurteilt hatte. Nur einzelne Genossen blieben weiterhin antimilitaristisch eingestellt. Grimm wurde zu dieser Zeit durch seine politische Position und seine internationalen Kontakte zu einer der führenden Figuren der Arbeiterbewegung in der Schweiz und Europa. Er organisierte die „welthistorischen“ Konferenzen von Zimmerwald (September 1915) und Kiental (April 1916). Hier sollten die sozialistischen Kräfte Europas neu gebündelt werden, um den Klassenkampf fortzuführen und durch den Antimilitarismus der Arbeiterschaft die kriegführenden Staaten zum Frieden zu zwingen. Obwohl er Lenins Überzeugung, dass eine Veränderung der Gesellschaft nur auf dem Weg der Gewalt möglich sei, nicht teilte, organisierte er die vom deutschen Militär ermöglichte Reise Lenins aus dem Schweizer Exil nach Petrograd mit. Eine Woche nach Lenins Abreise, reiste er selbst nach Russland, musste dort jedoch feststellen, dass er keinen Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen konnte.
Als Präsident des Oltener Aktionskomitees war Grimm die treibende Kraft beim Landesgeneralstreik vom 12. bis 14. November 1918. Obwohl dem Oltener Aktionskomitee weder eine bolschewistische Beeinflussung noch die Planung eines Umsturzes nachgewiesen werden konnte, wurden Grimm und zwei seiner Mitstreiter unter dem Vorwurf der Anstiftung zur Meuterei zu je sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Von 1911 bis 1919 und von 1920 bis 1955 saß er als Vertreter der SP im schweizerischen Nationalrat.
Medaillon mit der Abbildung von Fritz Platten
Fritz Platten (* 8. Juli 1883; † 22. April 1942) war der typische Berufsrevolutionär.
Er absolvierte die Sekundarschule in Zürich und begann eine Schlosserlehre beim Züricher Maschinenbauunternehmen Escher Wyss, die er jedoch wegen eines Unfalls nicht abschließen konnte. Im Alter von 21 Jahren trat er 1904 dem Arbeiterbund "Eintracht" bei und ging während der bürgerlichen Revolution von 1905 nach Russland. 1908 gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis, wo er eine mehrmonatige Haft wegen der Teilnahme an einem Aufstand in Riga (1906) verbüßte. 1911 trat er der SP bei und war 1912 Mitglied der Streikleitung beim Züricher Generalstreik. Nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale stieß Platten zur Zimmerwalder Bewegung und wurde Kommunist. Wegen seiner Teilnahme am Schweizer Landstreik verbüßte er 1920 eine Haftstrafe. Als Vertreter der SP und später der Kommunisten saß er von 1917 bis 1922 im Schweizer Nationalrat.
Platten verhandelte im Auftrag Lenins mit dem deutschen Botschafter in Bern, Gisbert Freiherr von Romberg, über die Rückführung des im Schweizer Exil lebenden Lenin nach Petrograd. Lenin und seine Begleitung – unter ihnen auch Platten – fuhren in einem angeblich verplombten Eisenbahnwaggon durch Deutschland. Über Schweden erreichte die Gruppe die damalige schwedisch-russische Grenze, die heutige schwedisch-finnische, wo Platten von den Grenzsoldaten zunächst zurückgewiesen wurde, während Lenin seine Reise fortsetzen durfte. Platten rettete bei einem Attentat am 14. Januar 1918 Lenin das Leben. 1919 war er bei der Gründung der Kommunistischen Internationale in Moskau Mitglied des Präsidiums. Platten siedelte 1923 in die Sowjetunion um und gründete mit anderen Schweizer Arbeiteremigranten eine landwirtschaftliche Genossenschaft beim Dorf Nowaja Lawa im heutigen Uljanowsker Oblast (damals Ujesd Sysran). Ab 1926 lebte er in Moskau und war von 1931 bis 1937 am Internationalen Agrarinstitut als Lehrer und wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.
Plattens Frau, Berta Zimmermann, fiel 1937 den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Er selbst wurde 1938 verhaftet und 1939 verurteilt. Nachdem er seine vierjährige Lagerhaft in Lipowo in der Nähe von Njandoma verbüßt hatte, wurde er an Lenins Geburtstag am 22. April 1942 erschossen.[5]
Medaillon mit der Abbildung von Dr. Arthur Schmidt
Am unauffälligsten ist der Lebenslauf von Dr. Arthur Schmid (* 30. April 1889; † 14. November 1958). Der Sohn eines Kaufmanns studierte von 1909 bis 1913 Nationalökonomie und promovierte an der Universität Zürich. Bereits während des Studiums trat er der SP bei und saß von 1917 bis 1920 im Züricher Kantonsrat sowie ab 1919 im Stadtrat von Winterthur. Im selben Jahr wurde er für den Kanton Aargau in den Nationalrat gewählt, dem er bis zu seinem Tod angehörte. Ab 1920 war er auch Parteisekretär der SP des Kantons Aargau. Gleichzeitig übernahm er die Redaktion der Zeitung „Freie Aargauer“. Schmid lehnte Extremismus von links und rechts entschieden ab. Er zählte zu den ersten führenden Sozialdemokraten, die sich bereits in den 1930er Jahren zur Landesverteidigung bekannten. Als Nationalrat und als Präsident der SP-Fraktion (1925 bis 1936) profilierte er sich auch in der Außen-, Finanz- und Bildungspolitik. Als begnadeter Redner wurde er auch von politischen Gegnern respektiert.[6]
Die drei „Genossen“ sind heute fast vollkommen in Vergessenheit geraten. Dies gilt auch für die Volksabstimmung am 3. Dezember 1922. Man hätte erwarten können, dass die Zustimmung für dieses Referendum beträchtlich ausfallen würde, da nur etwa 0,6 % der schweizer Bevölkerung zur Abgabe herangezogen worden wäre. Bei einer Rekordbeteiligung von 86,3 % der 902.253 Abstimmungsberechtigten sprachen sich jedoch 736.952 (87,0 %) gegen die Annahme aus. Die Propaganda hatte auf ganzer Linie gesiegt.
Text und Abb. Uwe Bronnert
[1] Dr. Arthur Schmid, Zur Vermögensabgabe-Initiative, in: Rote Revue, Sozialistische Monatsschrift, 3. Heft November 1922, S. 73.
[2] Der Originalwortlaut der vorgeschlagenen Verfassungsänderung ist abgedruckt bei Simon Loretz und David Stadelmann, Zur gesellschaftlichen Akzeptanz von einmaligen Vermögensabgaben, in: IHS-Policy Brief Nr. 6, Mai 2014, S. 8 f.
[3] Jakob Tanner, Der totaldemokratische Minimalstaat. Zur Geschichte des Steuerstaates in der Schweiz. https://www.researchgate.net/publication/280704204 Stand: 30.01.2019, 10.30 Uhr.
[4] Pirmin Meyer, Jahrhundertpolitiker Robert Grimm: Wer war der bedeutende Sozialdemokrat? https://www.aargauerzeitung.ch/leben/leben/jahrhundertpolitiker-robert-grimm-wer-war-der-bedeutende-sozialdemokrat-132057978 Stand: 28.01.2019, 19.25 Uhr.
[5] Angaben nach http://www.linkfang.de/wiki/Fritz_Platten Stand: 31.01.1919, 12.40 Uhr.
[6] Angaben nach Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D3789.php Stand: 31.01.1919, 12.25 Uhr.
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