„Wir werden sein Andenken und seine Arbeit in Ehren halten.“ So hieß es in einer Dankanzeige vor über 40 Jahren; ein geläufiger, aber befremdlicher Text.
Die Hinterbliebenen Günter Wurms ließen ihn in der SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“ abdrucken. Wurm war am 10. September 1983 im DDR-Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf angeblich durch Herzversagen aufgrund unverträglicher Medikamente verstorben. Doch was waren seine ehrenhafte Arbeiten? Das waren Unterschlagungen in großem Ausmaß – die umfangreichsten in der früheren DDR. Günter Wurm wurde am 12. Juni 1935 geboren und studierte von 1965 bis 1969 an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR
in Potsdam-Babelsberg. Er absolvierte sein Fernstudium als „Finanzökonom“. Da war der 30-Jährige schon Angehöriger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
Im Januar 1962 wurden auch private Schließfächer in Banktresoren von DDR-Sparkassen und -Banken von der Stasi beschlagnahmt ... und ausgeraubt. 21.000 Schließfächer waren betroffen. Günter Wurm war in die MfS-Aktion „Licht“ eingebunden und hatte sich dabei im Sinne der Vorgesetzten bewährt. Manche Eigentümer wurden genötigt, erpresst und mussten ihren Besitz – oft ersatzlos – an den Staat abgeben, der im Ausland für etwa 4,1 Mio. D-Mark verkauft wurde.
Innerhalb des DDR-Ministeriums für Außen- und Innerdeutschen Handel wurde am 1. Oktober 1966 die berüchtigte Abteilung KoKo (Kommerzielle Koordinierung) gegründet, sie unterstand der Stasi-Hauptabteilung XVIII und wurde anfangs von Stasi-Oberst Alexander Schalck-Golodkowski geführt. Hauptaufgabe war die Beschaffung von Devisen für die DDR-Wirtschaft. Wichtigster Mitarbeiter wurde Günter Wurm, der für seine Aktivitäten im westlichen Ausland aufgebaut wurde. So war er als Vermittler und Händler mehr als geeignet, Kaufinteressierte und Firmen in der Bundesrepublik und in Westeuropa mit wertvollen Kulturgütern und „hochwertigem Trödel“ zu versorgen. Dafür gründete er die Scheinfirma „Industrievertretung“; seine „konspirative Wohnung“ mit dem Tarnkürzel „NB“ befand sich in der Niederbarnimstraße in Ostberlin.
Bis 1970 lieferten Wurm und seine Geliebte alle Erlöse in Höhe von über einer halben Million DM jährlich an den damaligen DDR-Finanzminister Siegfried Böhm ab – in bar und ohne Quittung. Böhm wurde unter bisher ungeklärten Umständen im Mai 1980 durch Kopfschuss getötet; ein Täter wurde nie ermittelt.
Einen besonderen Coup landete Wurm 1976 bei der Ablieferung von ausgesonderten DDR-Banknoten an die Staatsbank der DDR. In der Operation „Note“ hatten Stasi-Leute 20-Mark-Scheine in Höhe von über 581.000 Mark sichergestellt: wahrscheinlich handelte sich es dabei um schlecht gedruckte Scheine der 1975er Ausgabe, die ab Januar 1976 in Umlauf kamen. Durch Druckunregelmäßigkeiten ließen die verschmierten Banknoten wohl einen Hitler-Kopf erkennen. Anders ist die Vermutung nicht zu begründen, denn wer hatte die Möglichkeit, solch eine großen Menge in kurzer Zeit zu verunstalten und absichtlich in Umlauf zu bringen. Günter Wurm erhielt den Auftrag, die „schlechten Banknoten“ im Gewicht von 30 Kilogramm zur Staatsbank der DDR zu bringen, wo sie vernichtet werden sollten. Im Austausch forderte er„saubere Banknoten“. Die DDR-Banker kamen seiner Forderung – angeblich auf Weisung – nach ... aber Wurm behielt das Geld einfach für sich.
Abb. 1: über 29.050 verschmierte 20-Mark-Banknoten „mit Hitler-Kopf“ wurden
1976 aufgespürt – in der allgemeinen Öffentlichkeit wurde diese Affäre nicht
bekannt und Abbildungsbelege sind nicht verfügbar.
Ins Visier von MfS-Minister Mielke geriet Wurm im Sommer 1980 durch die ausgeuferten Renovierungskosten des bebauten Stasi-Grundstücks im brandenburgischen Siehdichum. Über eine halbe Million Ostmark kostete die Sanierung des Forsthauses und das benachbarte Fischerhaus verschlang nochmals eine viertel Million. Mielke ordnete die Überprüfung von Günter Wurm und eine Durchsuchung seiner konspirativen Wohnung im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain an.
Nach Stasi-Akten befanden sich im Kachelofen der Wohnung 160.000 D-Mark und 26 Kilogramm Gold in Barren. Der „nur“ zum Major degradierten Wurm wurde als „Offizier im besonderen Einsatz“ in ein Dresdner Möbel-Kombinat nach Hellerau zwangsversetzt. Anschließend wurde auch das Gelände in Siehdichum durchsucht und man wurde fündig: weitere 44 Kilogramm Gold fand man in drei Teekesseln im Wald; in einer Garage hatte Wurm 1.100 Flaschen Cognac und 1,5 Millionen West-Zigaretten gelagert, Im Februar 1981 lag der Abschlussbericht vor und Wurm wurde aufgefordert, die Handelsfirma „Industrievertretung“ abzuwickeln und alle Wertgegenstände und Gelder abzuliefern.
Das befolgte Wurm nur teilweise. Er beklagte das Verhalten hoher SED-Funktionäre und wollte nicht wahrhaben, dass er in Ungnade gefallen war. Er begann zu trinken, beschwerte sich über seine Behandlung bei Ministern und wurde bald zur Bedrohung des Apparats. Deshalb wurde er im September 1981 wegen Verdachts auf „Fahnenflucht“ verhaftet.
Insgesamt wurden um die 85 Kilogramm Gold, 1,6 Millionen D-Mark, 2,2 Mio. DDR-Mark, US-Dollars und weitere zahlreiche Westwährungen, Münzen, Brillanten und Schmuck sowie japanische Heimelektronik beschlagnahmt.
Der 1. Militärstrafsenat beim Obersten Gericht der DDR verurteilte das Duo unter strengster Geheimhaltung, mit Sperrung des Ganges 8 im Gericht und mit Ausschluss der Öffentlichkeit am 3. Dezember 1981 zu 15 bzw. 8 Jahre Haft. Die Anklage lautete abgeschwächt auf „gemeinschaftlich begangenen verbrecherischen Diebstahl zum Nachteil sozialistischen Eigentums“; man befürchtete weitere Aussagen von Wurm, da er mit Bekanntgabe kompromittierender Einzelheiten über MfS-Obere, Minister und hohe Politfunktionäre drohte. Den Vorwurf der Fahnenflucht ließ man fallen; er hätte das gleiche Schicksal mit Werner Teske geteilt; der Stasi-Hauptmann wurde ein halbes Jahr zuvor zum Tode verurteilt.
Auch Teske hatte Finanzökonomie studiert und bis 1980 ebenfalls Gelder unterschlagen: über 20.000 D-Mark und über 21.000 DDR-Mark. Wurms Mittäterin verurteilte man zu acht Jahren, sie wurde aber nach vier Jahren vorzeitig entlassen, da sie sich zu „strengstem Stillschweigen“ verpflichtet hatte.
Abb. 2: schweizer Goldbarren und Goldmünzen; G. Wurm ließ diese im Tausch
gegen die veruntreuten Gelder bei einem Westberliner Händler aus der Schweiz besorgen und bunkerte sie in seiner Wohnung und auf dem Stasi-Gelände am Hammersee;
der damalige Gesamtwert des Goldes lag bei angenommenen 19,0 Mio. DDR-Mark –
tatsächlich lag er bei 1,35 Mio. US-Dollars bzw. 3,4 Mio. D-Mark.
Abb. 3: 1,63 Mio. D-Mark gehörten zum sog „Reptilienfonds“ von Wurm –
das würde eine Menge von bspw. 3.260 Banknoten zu 500 DM umfassen.
Abb. 4: das Bargeld in Höhe von 2,2 Mio. DDR-Mark hätte
bspw. 44.000 Banknoten zu 50 Mark entsprochen.
Abb. 5: 24.000 US-Dollars wurden im Besitz von Wurm gefunden;
in 100-$-Scheinen wären das 240 Banknoten gewesen.
Abb. 6: Banknoten verschiedener Währungen werden in Stasi-Akten genannt;
Mengen einzelner Devisenwerte in Österreichischen Schillingen, Britischen Pfund,
Schweizer Franken und Schwedischen Kronen sind nicht bekannt.
Abb. 7: aus den Stasi-Dokumenten ist nicht ersichtlich, welche einzelne Wertgegenstände von Wurm gehortet wurden; es soll sich um Gold-Schmuck, Brillanten und andere Edelsteine gehandelt haben – Briefmarken haben sich ebenfalls darunter befunden.
Abb. 8: weit über 1.000 hochwertige Spirituosen im 5-stelligen DM-Wert wurden gefunden.
Abb. 9: „Westzigaretten“ in Millionenhöhe in über 7.500 Stangen lagen in Wurms Verstecken.
Obwohl Günter Wurm mit einem monatlichen Gehalt als Oberstleutnant in Höhe von 2.300 DDR-Mark und seinen genehmigten Verkaufsprovisionen von 5 bis 10 Prozent in Westmark je Deal hätte gut leben können, reichten ihm seine Privilegien nicht ... und er handelte aus Geldgier zusammen mit seiner Freundin Ursula Schmidt (Leiterin einer Grenzübergangsstelle zu Westberlin) und seinem Mitarbeiter IM »Felix« außerordentlich kriminell. Resultat: unvergleichbare Verbrechen in der ehemaligen DDR, die erst durch den Zugang zu den Staatssicherheitsakten nach 1989 bekannt wurden.
Der langjährige Vorgesetzte von Günter Wurm setzte sich nach der Maueröffnung nach Westberlin ab: Schalck-Golodkowski floh mit seiner Frau aus der DDR, da er ahnte, dass ihn seine dubiosen Geschäfte zum Verhängnis würden. Er wurde später tatsächlich wegen Untreue und Steuerhinterziehung in Höhe von 100,0 Millionen D-Mark angeklagt. Schalck-G. erlitt im März 2003 einen Herzstillstand und lag wochenlang im Koma. Am 21. Juni 2015 starb der an Krebs erkrankte Schalck am Tegernsee in Bayern.
Abb. 10: Information von Generalleutnant Wolfgang Schwanitz vom 3. Dezember 1989 an
alle AfNS-Einheiten über die Flucht von Schalck-Golodkowski nach Westberlin. Schwanitz
war Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit (Nachfolge-Dienst des MfS bis März 1990);
Schalck-G. wurde vom bekannten Ostberliner Anwalt Wolfgang Vogel über den ausgestellten Haftbefehl von DDR-Behörden informiert – außerdem wurden insgesamt 30 führende KoKo-Mitarbeitern zur Fahndung ausgeschrieben. Am 6. Dezember 1989 hatte sich Schalck-G.
den Westberliner Behörden gestellt, darauf wurde von DDR-Seite „ein Rechtshilfeersuchen nebst Haftbefehl wg. Veruntreuung mit der Bitte um Zulieferung des Sch.“ an das Westberliner Kammergericht gestellt; der Bundesnachrichtendienst stellte am 15. Dezember fest: „In Führungskreisen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit besteht
geradezu ‚panische Angst‘ davor, dass sich Schalck westlichen Stellen gegenüber eröffnen und Interna seiner langjährigen Tätigkeit … preisgeben könne“; immerhin hatte Schalck-G. jährlich über 1,0 Mrd. D-Mark auch in illegalen Aktionen – u. a. Waffengeschäfte – für
die DDR erwirtschaftet.
Michael H. Schöne
Quellen:
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